Cicero, De natura deorum

 

(1) Wenn auch in der Philosophie immer noch viele Themen keinesfalls ausreichend erklärt sind, so ist doch, wie du sehr wohl weißt, mein Brutus, der Problemkreis über das Wesen der Götter sehr schwer und rätselhaft, der im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis überaus wertvoll und für die rechte Götterverehrung sehr schön ist. In dieser Frage vertreten die gelehrtesten Männer so unterschiedliche und einander widersprechende Positionen, daß dies als schlagender Beweis gelten muss, dass der Grund und der Ursprung der Philosophie die Unwissenheit war und dass die Akademiker klugerweise sich im Urteil über ungewisse Dinge zurückhielten. Was nämlich ist eine größere Schande als ein vorschnelles Urteil oder was ist so unüberlegt und für den Ernst und die Konsequenz eines Philosophen so unwürdig, als eine falsche Meinung zu haben oder etwas, das man nicht hinreichend geprüft verstanden und erfasst hat, ohne irgendeinen Zweifel zu verteidigen?

(2) Bei unserem Thema bejahten z.B. die meisten Philosophen die Existenz von Göttern, was ja auch höchst wahrscheinlich ist wohin wir unter Führung des natürlichen Empfindens kommen, Protagoras sagte, er zweifle, Diagoras von Melos und Theodoros von Kyrene glaubten, es gebe gar keine Götter. Diejenigen aber, welche auf der Existenz von Göttern bestanden, vertreten so verschiedenartige und widersprüchliche Ansichten, dass deren Meinungen aufzuzählen unendlich wäre. Denn über die Gestalt der Götter, ihren Aufenthaltsort und Wohnsitz und über ihre Lebensweise sagt man viel, und darüber herrscht bei den Philosophen ein erbitterter Meinungsstreit; was jedoch das Kernproblem bildet, nämlich ob sie nichts tun, nichts bewirken und frei von jeder Leitung und Verwaltung des Weltgeschehens sind, oder ob im Gegenteil alles von Beginn an von ihnen geschaffen und verwaltet wird und in alle Ewigkeit gelenkt wird und bewegt wird, darüber ist man zutiefst uneins, und wenn diese Frage nicht entschieden wird, befinden sich die Menschen notwendigerweise im Zustand völliger Ungewißheit und in Unkenntnis all dessen, was wesentlich ist.

(3) Es gibt und gab freilich Philosophen, die meinten, die Götter kümmerten sich überhaupt nicht um die menschlichen Geschicke. Wenn aber deren Ansicht zutrifft, wie können dann noch Frömmigkeit, Ehrfurcht und Religiosität bestehen? All das nämlich kann man der Macht der Götter ja nur dann lauter und rein entgegenbringen, wenn sie es auch zur Kenntnis nehmen und wenn die Menschen den unsterblichen Göttern etwas zu verdanken haben. Falls uns die Götter jedoch weder helfen können noch wollen, falls sie sich überhaupt nicht um uns kümmern, unser Tun und Treiben nicht beachten und es nichts gibt, was von ihnen auf das Leben der Menschen einwirken kann, welchen Grund gibt es, dass wir den unsterblichen Göttern irgendwelche Kulte, Riten und Gebete widmen? Im Trugbild des Scheins aber kann Frömmigkeit ebensowenig wie die übrigen Tugenden sein; mit ihr zusammen ist es notwendig, dass zugleich Ehrfurcht und Religiosität entfernt werden, und deren Verlust hat eine massive Beunruhigung und Orientierungslosigkeit des Lebens zur Folge;

(4) und ich weiß nicht, ob nach dem Verlust der Bindung an die Götter auch Treue und das Gemeinschaftsgefühl der Menschen und die eine, alles überragende Tugend, nämlich die Gerechtigkeit entfernt werden. Es gibt aber andere Philosophen, und zwar bedeutende und namhafte, welche der Meinung sind, dass die ganze Weit durch göttlichen Geist und göttliche Ahnung gelenkt und bestimmt wird, und nicht nur das, sondern die Götter sorgten und kümmerten sich auch um das Leben der Menschen; sie glauben, daß die Früchte des Feldes und alles, was die Erde noch hervorbringt, die Witterung, der Wechsel der Jahreszeiten und die Veränderungen am Himmel, wodurch alles, was die Erde hervorbringt, wächst und reift, den Menschen von den unsterblichen Göttern zugeteilt wurde; und sie stellen viele Belege zusammen, was in diesen Büchern noch gesagt wird, die fast den Eindruck erwecken, die unsterblichen Götter hätten anscheinend diese Gaben zum Nutzen der Menschen geschaffen. Gegen diese brachte Carneades so viel vor, dass er in den Menschen, sofern sie nicht träge waren, den Wunsch hervorrief, nach der Wahrheit zu suchen.

(5) Es gibt nämlich kein Thema, bei dem nicht nur die Laien, sondern auch die Fachleute so gegensätzlicher Meinung sind. Weil ihre Ansichten so vielfältig und einander so widersprüchlich sind, kann es sich tatsächlich zum einen herausstellen, daß keine davon die richtige ist, andererseits ist es gewiß unmöglich, dass mehr als eine wahr ist. Bei dieser Streitfrage nun bin ich in der Lage, wohlwollende Tadler zu beschwichtigen und böswillige Kritiker zu widerlegen, so dass die einen ihre Vorwürfe bereuen und die anderen sich über ihre neuen Erkenntnisse freuen werden; denn freundliche Ermahner muss man aufklären, missgünstige Angreifer zurückweisen.

(6) Wie ich sehe, haben nun meine Bücher - innerhalb kurzer Zeit habe ich ja eine Vielzahl ver- öffentlicht- Anlaß für viel und unterschiedlichen Gesprächsstoff geliefert bei Leuten, die sich teils darüber wunderten, woher dieses Interesse am Philosophieren bei mir plötzlich herrühre, und teils gerne wissen wollten, wovon ich in den strittigen Punkten jeweils überzeugt sei. Auch schien es vielen, so habe ich bemerkt, erstaunlich, dass ausgerechnet die Philosophie meinen Beifall gefunden hat, welche alle Klarheit beseitigt und die Dinge gleichsam in nächtliches Dunkel hüllt, und dass ich mich wider Erwarten zum Fürsprecher einer aufgegebenen und schon längst überwundenen philosophischen Richtung gemacht habe. Ich habe freilich nicht plötzlich mit dem Philosophieren angefangen, habe auch seit frühester Jugend nicht eben wenig Mühe und Sorgfalt auf dieses Studium verwandt, und immer dann, wenn es am wenigsten danach aussah, habe ich mich am intensivsten der Philosophie gewidmet. Dies bezeugen einmal meine Reden, die voll sind von den Maximen von Philosophen, zum anderen meine Freundschaften mit den besten Gelehrten, die stets und zahlreich mein Haus beehrten und schließlich meine Lehrer Diodotos, Philon, Antiochos und Poseidonios- alle bekanntlich Meister ihres Faches.

(7) Und wenn alle Vorschriften der Philosophie auf das praktische Leben zielen, so habe ich doch wohl in meinem öffentlichen und privaten Dasein gleichermaßen all das in die Tat umgesetzt, was mir Vernunft und philosophische Bildung vorschrieben. Sollte aber jemand fragen, welcher Grund uns dazu antrieb, das erst so spät aufzuschreiben, gibt es nichts, was wir so leicht erklären können. Denn als wir aus Mangel an politischen Aufgaben untätig waten und der Zustand des Staat der war, dass er notwendigerweise durch die planende Fürsorge eines einzelnen Mannes regiert werden müsse, glaubte ich zum ersten Mal, unseren Landsleuten, gerade um des Staates willen, die Philosophie näherbringen zu müssen, weil ich es für die Ehre und den Ruhm des Staates wichtig hielt, dass so bedeutsame und herrliche Gedanken auch in der lateinischen Literatur vorliegen

(8) Meine Erkenntnis reut mich umso weniger, als ich deutlich feststellen kann, wieviele Menschen ich nicht nur zum Lernen, sondern auch zum Schreiben angeregt habe. Denn eine Reihe von ihnen war zwar durch griechischen Unterricht gebildet, konnte aber ihre Erkenntnisse nicht an ihre Mitbürger weitergeben, weil sie nicht glaubten, dass das, was sie von den Griechen gelernt hatten, nicht auf Lateinisch gesagt werden könne. Meinem Meinung nach sind wir aber in dieser Beziehung schon so weit fortgeschritten, dass wir in der Breite des Wortschatzes nicht einmal von den Griechen übertroffen werden.

(9) Auch hat seelischer Kummer; hervorgerufen durch einen sehr schweren Schicksalsschlag, mich dazu gebracht, mich mit diesem Thema, zu beschäftigen. Hätte ich dafür irgendwo eine größere Linderung finden können, würde ich nicht gerade zu dieser Form des Trostes Zuflucht genommen haben. Eben diesen Trost konnte ich indes auf keine andere Weise besser schöpfen als dadurch, dass ich mich nicht nur der Lektüre philosophischer Schriften, sondern auch der Bearbeitung der gesamten Philosophie widmete. Alle ihre Teile und alle ihre Zweige lernt man aber dann am leichtesten kennen, wenn man sämtliche Probleme schriftlich behandelt, es gibt nämlich einen so bewundernswerten Zusammenhang und eine so bewundernswerte Verknüpfung der Gedanken, dass einer mit dem anderen verbunden und alle voneinander abhängig und miteinander verkettet scheinen.

(10) Die Leute nun, die wissen wollen, was ich persönlich über jedes einzelne Problem denke, zei- gen eine größere Neugier als nötig; denn bei wissenschaftlichen Untersuchungen soll man nicht so sehr nach einer Autorität, als vielmehr nach der Schlagkraft der Beweisführung fragen. Ja, meistens ist die Autorität der als Lehrer auftretenden Männer für die Lernwilligen sogar schädlich. Denn sie verzichten dann auf ihr eigenes Urteil und halten die Lösung eines von ihnen akzeptierten Lehrers für die Wahrheit. Auch missbillige ich immer das, was wir über die Pythagoreer gehört haben; wenn sie in einer Diskussion etwas behaupteten, sollen sie auf die Frage warum dies so sei, stets nur geantwortet haben "Er selbst hat das gesagt." Dieser "er selbst" war aber Pythagoras. So stark war also der Einfluss der vorgefassten Meinung, dass seine Autorität sogar ohne vernünftige Begründung anerkannt wurde.

(11) Den Leuten nun, die sich darüber wundern, dass ich mich gerade dieser philosophischen Richtung angeschlossen habe, ist wohl in meinen vier "Akademischen Büchern" ausreichend Antwort gegeben. Auch habe ich nicht die Verteidigung aufgegebener und schon überwundener Lehrsätze übernommen, denn wenn Menschen sterben, werden dadurch nicht auch ihre Gedanken hinfällig, sondern brauchen vielleicht nur die Erhellung durch einen anerkannten Interpreten. So behielt in der Philosophie die Methode, gegen alles zu sprechen und nichts definitiv zu entscheiden, die von Sokrates begründet, von Arkesilaos wieder aufgegriffen und von Karneades bestätigt wurde, bis in unsere Zeit ihre Gültigkeit. Heutzutage hat sie, wie ich allerdings sehe, in Griechenland selbst fast keine Anhänger mehr. Dies ist meines Erachtens nicht die Schuld der Akademie, sondern das Ergebnis menschlicher Trägheit. Denn wenn es schon schwierig ist, die einzelnen Lehren zu begreifen, wie viel schwieriger ist es dann, sie alle zu verstehen. Das müssen aber die Leute tun, die sich vorgenommen haben, im Interesse der Wahrheitsfindung sowohl gegen alle Philosophen als auch für alle zu sprechen.

(12) Ich behaupte nun nicht, ich besäße die Fähigkeit, dieser so großen und schweren Aufgabe gerecht zu werden, nehme jedoch für mich in Anspruch, mich darum bemüht zu haben. Es ist nämlich trotz allem nicht so, dass die Anhänger unserer philosophischen Methode keinen Maßstab hätten, an dem sie sich orientieren. Darüber ist andernorts zwar schon eingehender gesprochen worden, doch da manche allzu unbelehrbar und begriffsstutzig sind, müssen sie wohl des öfteren belehrt werden. Ich bin ja nicht jemand, der nichts für wahr hält, sondern betone nur, dass alle Wahrheiten mit gewissen falschen Ideen verbunden sind und beides einander so sehr ähnelt, dass es hier kein verlässliches Entscheidungs- und Zustimmungskriterium gibt. Daraus leitet sich auch folgen- des ab: Vieles ist wahrscheinlich, und obwohl man es nicht völlig erfassen kann, dient es dennoch, weil es eine ziemlich klare und deutliche Vorstellung vermittelt, dem Leben eines Weisen als Richtschnur.

(...)

(15) Dies ist mir schon zu anderer Zeit aufgefallen, besonders aber, als bei meinem Freund C. Cotta sehr gewissenhaft und gründlich über die unsterblichen Götter diskutiert wurde. Denn als ich auf seine persönliche Bitte und Einladung hin an den Latinischen Feiertagen zu ihm kam, traf ich ihn in der Exedra sitzend an, als er sich gerade mit dem Senator C. Velleius, dem die Epikureer seinerzeit die führende Rolle unter unseren Landsleuten zuerkannten, unterhielt. Ebenso war auch Q. Lucilius Balbus, der in der stoischen Lehre so große Fortschritte gemacht hatte, dass er mit den auf diesem Gebiet griechischen Koryphäen verglichen wurde. Sobald er mich gesehen hatte, sagte er. "Du kommst genau im rechten Moment; denn zwischen Velleius und mir erhebt sich gerade in einer wichtigen Sache ein Streit, an dem Du angesichts deines Eifers ruhig teilnehmen solltest.

(16) "Offensichtlich bin ich, wie Du sagst, im rechten Moment gekommen. Mit euch sind hier ja die führenden Vertreter dreier Schulen zusammengekommen Wenn auch noch Marcus Piso da wäre, wäre kein Platz einer philosophischen Richtung frei, jedenfalls derer nicht, die anerkannt sind." Da sagte Cotta "Falls das Buch unseres Antiochos, das von ihm erst kürzlich dem Balbus hier geschickt wurde, Wahres spricht, gibt es keinen Grund, dass Du Deinen Freund Piso vermisst; Nach Antiochos' Meinung stimmen nämlich anscheinend die Stoiker mit den Peripatetikern überein, weichen aber nur im Ausdruck voneinander ab. Ich möchte gerne wissen, mein Balbus, was du von diesem Buche hältst." "Ich?" antwortete er. "Mich wundert, dass Antiochos, ein besonders scharfsinniger Mensch, nicht gesehen hat, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt, zwischen den Stoikern, die das moralisch Gute nicht nur dem Namen nach, sondern auch qualitativ von den äußeren Gütern trennen, und den Peripatetikern, die das moralisch Gute mit dem Nutzen so vermischen, dass sie dies untereinander nach dem Ausmaß und gleichsam stufenweise, nicht aber nach dem Wesen unterscheiden. Dies ist freilich kein unbedeutender Streit um Worte, sondern ein ganz erheblicher um die Sache. Das aber ein andermal. Nun lasst uns da weitermachen, wo wir angefangen haben, wenn´s recht ist."

(17) "Mir ist es recht", sagte Cotta. Mich betrachtend fuhr er fort: "Aber damit unser Gast weiß, um was es überhaupt geht: über das Wesen der Götter wollte ich mich eben bei Velleius nach der Meinung Epikurs erkundigen, weil es mir wie immer sehr rätselhaft erschien. Deswegen, Velleius", sagte er, "wiederhole, was Du eben angefangen hast, wenn es nicht lästig ist." "Gewiss, auch wenn unser Gast nicht zu meiner, sondern zu deiner Unterstützung gekommen ist;" er lächelte und sagte: "Ihr beide habt ja vom selben Philon gelernt, nichts genau zu wissen." Da sagte ich: "Was wir gelernt haben, mag Cotta sehen, glaube aber nicht, dass ich nur zu seiner Unterstützung gekommen bin, sondern als Zuhörer, und zwar als ein unparteiischer, frei von irgendeinem Urteil, an keinerlei derartigen Zwang unterworfen, dass ich wohl oder übel eine sichere Meinung vertreten muss."

(18) Da sagte Velleius ganz selbstsicher, wie sie es gewohnt sind, weil er nichts so sehr fürchtete wie den Eindruck zu machen, an irgendetwas zu zweifeln, auf eine Weise, als wäre er von der Versammlung der Götter und aus den Zwischenwelten Epikurs herabgestiegen: "Hört keine wertlosen und erfundene Meinungen, nichts von Platons Gott aus dem 'Timaios' als Schöpfer und Erbauer der Welt, nichts von einem alten Wahrsagerweib namens Pronoea, die man Lateinisch Providentia nennen darf, und vor allem nichts davon, dass die Welt, selbst mit einer Seele und Sinnen ausgestattet, ein kugelförmiger, brennender und kreisender Gott ist, denn das sind wunderliche Phantasieprodukte von Philosophen, die nicht diskutieren, sondern träumen.

(19) Mit welchen geistigen Augen nämlich konnte euer Plato diesen Bau eines so großen Werkes betrachten, durch das er die Welt von Gott erschaffen und erbauen ließ? Welche Vorrichtung, welche Werkzeuge, welche Hebel, welche Maschinen, welche Diener gab es für ein so gewaltiges Vorhaben? Wie konnten aber die Luft, das Feuer, das Wasser und die Erde dem Willen des Baumeisters nachkommen und gehorchen? Woher aber sind diese fünf Grundformen entstanden, aus denen das Übrige geformt wird, wobei alles so geeignet aufeinandertrifft, dass es den Geist anspricht und die Sinneseindrücke hervorruft? Es würde zu weit führen, auf alles einzugehen, was so ist, dass es eher erwünscht als erfunden scheint.

(20) Aber es ist der Gipfel, dass der, der eingeführt hat, dass die Welt nicht nur entstanden, sondern auch noch in Handarbeit geschaffen worden ist, auch noch sagt, dass sie ewig sei. Meinst Du vielleicht, dass dieser an der physiologia, das heißt die Naturwissenschaft,- wie man so schön sagt- nur genippt habe, so dass seiner Meinung nach das, was immer auch entstehen möge, ewig sein könne? Welche Verbindung nämlich ist nicht auflösbar, oder was gibt es, das zwar einen Anfang, aber kein Ende hat? Wenn aber Eure Pronoia so wie Platons Gott ist, frage ich, wie schon kurz vorher, mein Lucilius, nach den Dienern, Maschinen sowie der ganzen Einrichtung und dem Apparat für dieses gesamte Werk; wenn sie aber anders ist, frage ich, warum sie die Welt vergänglich, und nicht, wie der Gott bei Plato, ewig gemacht hat.

(...)

(43) Wer betrachtet, wie unüberlegt und planlos diese Lehren gesagt werden, müsste Epikur verehren und zur Zahl derer gehören, um die es bei diesem Problemkreis geht. Er allein hat nämlich als erster die Existenz von Göttern gesehen, weil die Natur selbst die Vorstellung an sie in die Seelen aller eingeprägt hatte. Was ist das für ein Volk oder eine Menschenrasse, die nicht ohne eine Lehre eine Allgemeinvorstellung an die Götter habe, die Epikur prolepsis nennt, d. h. eine in der Seele vorweggenommene Vorstellung an ein Thema, ohne die man nichts verstehen, fragen und diskutieren kann. Die Bedeutung und der Nutzen dieser Lehre haben wir aus dem himmlischen Werk des Epikur "De regula et iudicio" empfangen.

(44) Was also die Grundlage dieses Problemkreises ist, das seht ihr hier offen dargelegt. Weil nämlich die Meinung nicht durch irgendeine Einrichtung, eine Sitte oder durch ein Gesetz begründet ist und die Übereinstimmung ausnahmslos stark blieb, muss man notwendigerweise die Existenz von Göttern einsehen, weil wir ja eingepflanzte oder besser angeborene Vorstellungen haben; worüber aber die allgemein verbreitete Erkenntnis übereinstimmt, muss notwendigerweise wahr sein; also muss die Existenz von Göttern bekannt werden. Weil dies ja nicht nur unter allen Philosophen, sondern auch Laien, bekannt ist, gestehen wir, dass auch zweitens feststeht, dass wir entweder diese Allgemeinvorstellung, wie ich schon vorhin gesagt habe, oder diesen Vorbegriff der Götter haben (neuen Gedanken müssen nämlich auch neue Namen gegeben werden, wie Epikur selbst es prolepsis gennant hat, was vorher niemand mit diesem Ausdruck genannt hatte).

(45) Diesen haben wir also, damit wir die Götter für glückselig und unsterblich halten. Diese Natur hat und nämlich den Begriff der Götter selbst gegeben, dieselbe hat auch in unsere Geister eingemeißelt, dass wir sie für ewig und glückselig halten sollen. Wenn das so ist, ist von Epikur diese Meinung richtig dargelegt worden, dass das, was glückselig und ewig sei, selbst keine Schwierig- keiten mache und sie auch keinem anderen verursache, deshalb weder durch Zorn noch durch Gunst sich bestimmen lasse, weil alles derartige schwach wäre. Wenn wir nichts anderes erstreben würden, außer dass wir die Götter fromm verehren und vom Aberglauben befreit werden, wäre genug gesagt; denn das überlegene Wesen der Götter würde durch die Frömmigkeit der Menschen verehrt, weil es ewig und glückselig ist (denn Herausragendes hat nämlich seine Verehrung zu Recht), und die ganze Furcht vor dem Zorn und der Gunst der Götter wäre vertrieben; man sieht nämlich ein, dass Zorn und Gunst mit einem glückseligen und ewigen Wesen unvereinbar sind; nach deren Beseitigung bestünde keinerlei Furcht mehr vor den Göttern. Aber um diese Meinung zu bestärken, erforscht der Geist sowohl die Gestalt, als auch das Leben, als auch die geistige Tätigkeit und Regsamkeit eines Gottes.

(...)

(50) Und gewöhnlich wollt ihr, Balbus, von uns wissen, wie das Leben der Götter ist und wie es von ihnen verbracht wird.

(51) Offenbar ist es so, wie man es sich nicht glücklicher und reicher an Gütern vorstellen kann. Er tut nämlich nichts, ist in keinerlei Beschäftigungen verwickelt, plagt sich mit keiner Arbeit herum, erfreut sich an seiner Weisheit und Tugend und hat die Gewissheit, dass er immer sowohl in den größten, besonders aber in den ewigen Freuden sein wird.

(52) Zu Recht könnten wir diesen Gott als glücklich bezeichnen, den eurigen aber als müßigsten. Sei es, dass der Gott die Welt selbst ist, was könnte weniger müßig sein, als sich ununterbrochen um die Himmelsachse mit einer bewundernswerten Geschwindigkeit zu drehen: nur das Ruhige ist glücklich. Oder sei es, dass irgendein Gott in der Welt selbst ist, der herrscht, der lenkt, der den Lauf der Gestirne, den Wechsel der Jahreszeiten, die Wiederkehr der Naturerscheinungen und den geordneten Wechsel bewahrt, der die Erde und die Meere betrachtet und das Leben und den Nutzen der Menschen schützt, ja dann ist er in lästige und mühevolle Arbeiten verwickelt.

(53) Wir aber sehen ein glückliches Leben in der Sorglosigkeit des Geistes und in einem Freisein von allen Aufgaben. Der, der uns übriges gelehrt hat, hat uns auch gelehrt, dass die Welt durch eine Naturkraft geschaffen worden sei, dass man dazu keinerlei Kunstfertigkeit gebraucht habe, und diese Sache, von der ihr sagt, dass sie ohne göttliches Geschick nicht bewirkt werden könne, so leicht sei, dass die Naturkraft unzählige Welten hervorbringen wird, hervorbringt und hervorgebracht hat. Weil ihr nicht seht, wie die Naturkraft dies bewirken kann, flüchtet ihr euch wie die Tragödiendichter zu einem Gott, wenn ihr den Gedankengang nicht lösen könnt.

(54) Seine Mühe würdet ihr gar nicht benötigen, wenn ihr die unermessliche und nach allen Seiten unbegrenzte Größe des Weltraums sähet, in die sich der Geist stürzt, versenkt und so weit und breit durchreist, dass er dennoch keine äußerste Grenze sieht, an er haltmachen kann. In diese Unermesslichkeit an Länge, Höhe und Breite schwirrt eine unbegrenzte Menge an unzähligen Atomen umher, die sich trotz der dazwischengeschobenen Leere aneinanderklammern und sich zusammenballen, indem die einen die anderen ergreifen; daraus werden diese Formen und Gestalten der Dinge bewirkt, die eurer Meinung nach nicht ohne Blasebälger und Ambosse bewirkt werden können. Deshalb habt ihr in unsere Nacken einen ewigen Herren gestellt, den wir Tag und Nacht fürchten sollen. Wer nämlich sollte nicht einen Gott fürchten, der alles voraussieht, überlegt, wahrnimmt, der meint, alles auf sich zu beziehen, ein Gott, der neugierig und voll von Aufgaben ist?

(55) Von daher ist bei euch zuerst jene folgenschwere Notwendigkeit entstanden, die ihr eimarmenh nennt, damit ihr sagen könnt, dass alles, was auch immer passiert, aus der ewig geltenden Wirklichkeit und lückenlosen Kausalreihe herleiten lässt. Wie sehr muss man aber diese Philosophie beurteilen, für die alles wie bei alten Weiblein, und zwar ungebildete, offenbar durch das Schicksal geschieht? Es folgt eure mantikh, die man im Lateinischen "divinatio" nennt, durch die alles mit so großem Aberglauben erfüllt wird, dass wir Opferschauer, Vogelschauer, Wahrsager, Seher und Traumdeuter verehren müssten, wenn wir euch erhören wollten.

(56) Wir aber sind von Epikur von diesen Schrecken gelöst und befreit und fürchten die, die unserer Einsicht nach sich keine Beschwerlichkeit suchen und auch einem anderen nicht suchen, nicht. Und wir verehren fromm und heilig die herausragende und vortreffliche Naturkraft. Aber ich fürchte, dass ich zu weit gegangen bin- ich wurde vom Eifer hingerissen. Es wäre aber schwer, eine so wichtige und vortreffliche Sache halbfertig zu lassen; freilich hätte ich mein Interesse nicht so sehr auf mein Reden als viel mehr aufs Zuhören richten sollen."

(...)

 

Liber secundus

(13) Deshalb steht unter allen Menschenarten eine Hauptsache fest; denn allen ist im Geist die Existenz von Göttern eingebeoren und gleichsam eingeprägt. Über ihre Beschaffenheit gibt es unterschiedliche Meinungen, auf alle Fälle wird aber deren Existenz bejaht. Freilich sprach unser Kleanthes von vier Gründen, warum in die Geister der Menschen die Vorstellungen von der Götterexistenz eingeprägt sind. Als ersten nannte er den, von dem ich eben geredet habe, der aus der Vorahnung zukünftiger Dinge entstanden war; der zweite ist der, den wir aus der Größe der Vorteile gezogen haben, den man im gemäßigten Klima, der Fruchtbarkeit der Erde und der Fülle an mehreren anderen Annehmlichkeiten erkennt;

(14) Der dritte ist der, der die Herzen erschreckt durch Blitze, Unwetter, Regenschauer, Schneestürme, Hagelschauer, Verwüstung, Erdbeben und oft auch durch unterirdisches Dröhnen, Steinregen und blutartige Tropfen, dann durch Erdrutsche oder plötzliche Erdspalten, dann auch durch widernatürliche Missgeburten bei Mensch und Tier, dann durch Fackelerscheinungen am Himmel, dann durch jene Sterne, die die Griechen komhtai nennen, wir aber Haarsterne, die neulich im Oktavianischen Krieg die Vorboten von großen Missgeschicken waren, dann durch eine Doppelsonne, die, wie ich es von Vater gehört habe, sich unter dem Konsulat von Tuditanus und Aquilius gerade in dem Jahr ereignet hatte, in dem P. Afrikanus, die andere Sonne, ausgelöscht wurde, durch die die Menschen erschraken und vermuteten, dass es eine himmliche und göttliche Macht gibt;

(15) Der vierte und wichtigste Grund sei die gleichmäßige Bewegung, die Kreisbahn des Himmels, der Sonne, des Mondes und die gesonderte Bahn , der Nutzen, die Schönheit und die Ordnung aller Gestirne, deren bloßer Anblick zu Genüge anzeigte, dass dies nicht zufällig sei: wenn jemand in irgendein Haus, ein Gymnasium oder aufs Forum käme und er die planmäßige Einrichtung, den geregelten Betrieb und Ordnung aller Dinge sähe, könne er nicht glauben, dass dies ohne Ursache geschehe, sondern müsse einsehen, dass es jemanden gibt, der leitet und dem man gehorcht. Umso mehr müsse er in so großen Bewegungen und Wiederkehr, in geregelten Abläufen so großer und vieler Dinge, in denen sich das unermessliche und unbegrenzte Alter niemals geirrt hat, feststellen, dass so große Bewegungen in der Natur von irgendeinem Geist gelenkt werden.

(...)

(28) Weil alle Teile der Welt durch Wärme erhalten werden, folgt daraus, dass auch die Welt selbst mit ähnlicher und gleicher Naturkraft in so großer Langlebigkeit bewahrt wird, und das umso mehr, als man einsehen muss, dass dieser warme und feuriger Stoff die ganze Natur so durchdringt, dass in ihm die Kraft und die Ursache des Zeugens ist, eine Kraft, von der aus alle beseelten Wesen und all das, deren Wurzeln in der Erde festgehalten werden, notwendigerweise entstehen und wachsen.

(29) Es gibt also eine Naturkraft, die die ganze Welt zusammenhält und sie schützt und zwar mit Fähigkeit zur Wahrnehmung und Vernunft. Denn es ist notwendig, dass die ganze Naturkraft, die ja nicht isoliert und aus einem einzigen Teil bestehend ist, sondern mit einem anderen Stoff verbindend verknüpft ist, in sich irgendein leitendes Prinzip haben, so wie die Seele im Menschen, <oder> etwas Seelenähnliches im Tier, woher alle Triebe entstehen; jedoch glaubt man, dass sich in den Wurzeln der Bäume und jener Dinge, die die Erde hervorbringt, das leitende Prinzip befinde. Ich aber nenne das "das leitende Prinzip", das die Griechen hegemonikon nennen, im Vergleich zu dem es in dieser Art nichts vortrefflicheres weder geben kann noch darf.

(30) Wir sehen nun aber, dass in den Teilen der Erde (denn es gibt nichts in der ganzen Welt, was nicht Teil des Weltalls wäre) eine Fähigkeit zur Wahrnehmung und Vernunft sind.

(...)

(154) Bleibt nur noch übrig, dass ich lehre und einmal abschließend betone, dass alles, was es auf dieser Welt gibt, alles, was die Menschen gebrauchen, für die Menschen gemacht und bereitet sei. Denn die Welt ist sozusagen ein gemeinsames Haus für Götter und Menschen oder eine Stadt für beide; indem sie nämlich ihre Vernunft benutzen, leben sie nach Recht und Gesetz. Wie man also glauben muss, dass Athen und Sparta um der Athener und Spartaner willen gegründet worden sei und angeblich alles, was in diesen Städten ist, richtigerweise diesen Völkern gehört, so muss man glauben, dass, was es auch immer in dieser Welt gibt, den Göttern und Menschen gehört.

(155) Schon bieten aber die Umläufe der Sonne und des Mondes und der übrigen Gestirne den Menschen dennoch auch ein Schauspiel, obwohl sie auch ihren Einfluss auf den Zusammenhang der Welt haben; kein Anblick ist nämlich unerschöpflicher, keiner ist schöner und vortrefflicher im Hinblick auf die überlegte Gestaltung; weil wir nämlich deren Lauf ausgemessen haben, kennen wir den rechtzeitigen Beginn der Jahreszeiten, die Wechsel und Änderungen. Wenn dies aber nur uns Menschen bekannt ist, muss man urteilen, dass es um des Menschen willen geschaffen wurde.