Die antike Redekunst

 

In Griechenland ist die Rhetorik als Kunst der öffentlichen Rede im Zusammenhang mit der Entwicklung der Demokratie, besonders in Athen und Sizilien, entstanden. Demokratie, in der Männer debattierten und bestimmten in Volksversammlungen über die Geschicke ihrer Heimatstadt, hatten dabei Meinungen zu vertreten und zu widerlegen, Anträge zu begründen und zurückzuweisen. Reden zu können war die entscheidende Vorbedingung für eine aktive Teilnahme am politischen Leben. So wurzelt die griechische Rhetorik also in der Kunst der politischen Rede.

In Athen gab es keinen Staatsanwalt, der anklagte, und es gab auch nicht den Beruf des Verteidigers. Jeder Privatmann konnte vor den Geschworenengerichten Klage gegen jemand erheben, der Beklagte hatte sich selbst zu verteidigen. So lag es im Interesse jedes Athener Bürgers, sich selbst rhetorisch zu bilden, um entweder als Ankläger oder als eigener Verteidiger wirkungsvoll auftreten zu können. Die Gerichtsrede war so die zweite Wurzel der griechischen Rhetorik. Als dritte Redegattung gab es schliesslich noch die Feierrede, die den Lobpreis verdienter Leute, insbesondere im Rahmen einer Bestattungsfeier, zum Inhalt hatte.

So entwickelten sich Berufsredner. Einer der berühmtesten Rhetoriklehrer am Ende des 5. Jh. v. Chr. war Gorgias, der von Sizilien nach Athen kam. Es bildete sich ein Stand der Berufsredner, die gegen Bezahlung die Verteidigung eines Angeklagten übernahmen.

Von Anfang an also ist der Begriff des Redners in Athen mehr oder weniger gleichbedeutend mit unserem Begriff "Politiker" bzw. "Rechtsanwalt" gewesen. Die bedeutendsten Redner Athens um 5. und 4. Jh. v. Chr. waren Lysias, Isokrates, Demosthenes und Aischines.

Als im Jahre 338 v. Chr. Makedonien unter König Philipp II. durch den Sieg über die Athener und ihre Verbündeten in der Schlacht bei Chaironeia die Oberherrschaft über Griechenland gewonnen hatte, verlor die politische Rhetorik die politische Voraussetzung zur praktischen Betätigung. Rhetorikschulen verfeinerten nur noch formale Seite. So gewann die Rhetorik grosse Bedeutung für Prosa und Dichtkunst. Auch sie setzten mehr auf formale Effekte als auf Inhalte.

Wie Athen war auch Rom zunächst ein kleiner Stadtstaat, in dem die öffentliche Rede ebenfalls eine grosse Rolle spielte. Doch auch als aus Rom das Römische Reich geworden war, befanden "Senatus populusque Romanus" (SPQR) über die Geschicke des Reiches. Anders nun als in Athen, wo die Volksversammlung die entscheidende Verfassungsinstitution war, gab es in Rom zwei Kräfte mit unterschiedlichen Interessen, den Senat und das Volk, so dass die Redekunst hier eine besondere Bedeutung in der Auseinandersetzung dieser beiden Kräfte gewann.

Die Redner, die entweder im Senat oder vor der Volksversammlung sprachen, gehörten zu den bedeutendsten Männern im Staat und wirkten meinungsbildend und als Informanten über politische Vorgänge und das Leben in Rom und in der Welt. Der Weg zu höheren und höchsten Ämtern im Staat führte also (neben Herkunft aus einflussreicher Familie) zwangsläufig über eine ausreichende Begabung und Ausbildung in der Kunst der öffentlichen Rede; die Karriere begann dabei in der Regel mit einer erfolgreichen Tätigkeit als Anwalt.

Der erste, der in Rom für die Veröffentlichung und damit Erhaltung seiner Reden sorgte, war M. Porcius Cato (234-149). Cato definierte den Staatsmann als "vir bonus decendi peritus" - als "ehrenwerten Mann, der die Redekunst beherrscht". Er beschliesst seine konservativen bodenständigen Reden mit: "Ceterum censeo Karthaginem esse delendam - im übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss" (was dann 146 v. Chr. auch geschah). Cato war in seinen Auffassungen kompromisslos und oft beleidigend gegenüber seinen Gegnern, was ihm insgesamt 44 Anklagen einbrachte. Jedesmal verteidigte er sich selbst, und nie wurde er verurteilt.

Cicero bezeichnete Gaius Graccus als den grössten aller Redner.

M. Tullius Cicero (106-43) gelang es, ohne den Hintergrund einer einflussreichen Familie Einzug aufgrund seiner überragenden rhetorischen Fähigkeiten zu den höchsten Staatsämtern bis zum Konsulat vorzudringen. Cicero war ein universell gebildeter Mann; zunächst Rechtsanwalt, trat er später als Politiker, Philosoph und Schriftsteller hervor. viele erhaltene Briefe zeichnen zudem ein dichtes Bild vom Privatmann Cicero und vom privaten Leben seiner Zeit. Die zahlreichen überlieferten Reden, die er für die Veröffentlichung freilich stilistisch überarbeitet hat, galten in der Folgezeit (und gelten auch heute) als Meisterwerke der Redekunst. Die Wirkung seiner Sprach war so gewaltig, dass das Latein Ciceros zum Muster für nachahmenswertes Latein schlechthin wurde.

Cicero hat sich auch theoretisch mit der Redekunst befasst. Aus diesen theoretischen Schriften wissen wir z.B. auch um die Kontroversen, die im 2. und 1. Jh. darüber ausgetragen wurden, wieweit bzw. wie sich die Römer die griechische Theorie und Praxis der Rhetorik aneignen sollten.

Die griechische Redekunst lernten die Römer in 2. Jh. durch griechische Rhetoren kennen, die als Lehrer nach Rom kamen. Sogleich erkannten die Römer die grosse Bedeutung der neuen Disziplin wegen ihrer praktischen Anwendungsmöglichkeit. Doch es regte sich auch Widerstand von seiten konservativer Kreise, deren Wortführer Cato war: Was sollte der neumodische gefährliche Kram, bei dem es auf Effekte und nicht auf den Inhalt der Rede ankam? "Rem tene, verba sequentur" war der Kern seiner Auffassung. "Hab die Sache in Griff, die Worte schliessen sich an". Den Höhepunkt erreichte diese Opposition, als um Jahre 161 die griechischen Rhetoriklehrer aus Rom ausgewiesen wurden!

Doch die Römer von Stand schickten ihre Söhne weiterhin zu den Rhetoren oder schickten sie zum Studium nach Athen, Ephesos oder Rhodos. Mit der Ausbildung in Rhetorik war auch ein wissenschaftliches Studium verbunden, denn wer als Redner auftrat, musste zeigen, dass er in allen wichtigen Dingen beschlagen war.

Nach Cicero musste der orator perfectus auch ein Philosoph und sittliches Vorbild, und der wahre Staatsmann auch orator perfectus sein.

Nachdem die römische Rhetorik im 2. und 1. Jh. v. Chr. eine Blütezeit hatte, setzte nach Cicero bald ein Niedergang ein: Die Republik war am Ende, der Prinzipat, d. h. die Kaiserherrschaft, wurde mit Augustus eingeleitet. Politik wurde nunmehr am Kaiserhof gemacht und der Princeps beeinflusste auch wichtige Prozesse. Die Rhetorikschulen ergingen sich in phantastischen, unwirklichen Redeübungen, in controversiae und suasoriae; es kam allein auf die gekünstelte Anwendung rhetorischer Formen und Spitzfindigkeiten an. Zwar beklagten bedeutende Vertreter des geistigen Lebens wie z.B. der Historiker Tacitus (1. Jh. n. Chr.) und der Rhetorikprofessor Quintilian (1. Jh. n. Chr.) diesen Verfall; im 2. Jh. n. Chr. kam es auch noch einmal zu einer Blüte der Rhetorik, doch war dies keine im früheren Sinn öffentliche Rhetorik mehr.

Gleichwohl blieb die Rhetorik die Antike und das Mittelalter hindurch bis ins 18. Jh. eine der wichtigsten Disziplinen allgemeiner Bildung, seither ist sie allenfalls noch für Juristen, Pfarrer und Politiker notwendiges "Handwerkszeug". Im politischen Bereich hat Rhetorik heute etwas Anrüchiges - man denkt an Verführung und Manipulation durch Rede. Diese Seite gehörte freilich von Anfang an zur Rhetorik: Der "demagogos" im antiken Athen war zunächst nur derjenige, der das "Volk anführt", bald bedeutete das Wort jedoch wie heute Demagoge, "Volksverführer". Und hier kann man wieder Cicero sprechen lassen: Rhetorik und Moral sind unmittelbar miteinander verwoben.