Lateinische Literatur

 

Lateinische Literatur, die Literatur des antiken Rom und weiter Teile Westeuropas vom Mittelalter bis in die Renaissance, verfasst in lateinischer Sprache.

Geschichte des Lateinischen als Literatursprache

Die frühesten Zeugnisse in lateinischer Sprache verfasster Literatur stammen aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. In unterschiedlicher Ausprägung setzt sich deren Tradition bis zum heutigen Tag fort. Der Zerfall des Römischen Weltreiches (siehe römische Geschichte) und die stufenweise Entwicklung der romanischen Sprachen aus dem Vulgärlateinischen (der gesprochenen Sprache des gemeinen Volkes) konnte über Jahrhunderte hinweg der Stellung des Lateinischen als führender literarischer Sprache Westeuropas nichts anhaben. Die lateinische Literatur entwickelte sich in christianisierter Form auch während des Mittelalters weiter, als das Lateinische Amtssprache der römisch-katholischen Kirche war. Mit dem Aufkommen des Humanismus im 14. Jahrhundert und dessen Betonung der klassischen Formen der Antike erlebte das Lateinische eine neue Blüte, die bis ins 17. Jahrhundert anhalten sollte. Noch bis vor kurzem galt in der abendländischen Kultur die Kenntnis der klassischen römischen (und griechischen) Literatur als Grundlage einer guten Allgemeinbildung.

Merkmale römischer Literatur

Die Literatur Roms nahm sich die griechische Literatur zum Vorbild und diente ihrerseits als Grundlage für die Entwicklung der späteren europäischen Literaturen, insbesondere der Renaissanceliteratur. Da die römischen Schriftsteller formal aufs engste mit den griechischen Vorlagen verbunden waren, trachteten sie in ihren Werken danach, die Eigenständigkeit ihrer Erfahrungen hervorzuheben. Das entscheidende Moment für fast alle römischen Autoren dürfte gewesen sein, die Rolle Roms als zivilisatorische Macht in der Welt richtig einzuschätzen. Die größten Leistungen der römischen Literatur finden wir in den Bereichen Epik und Lyrik, Rhetorik, Geschichtsschreibung, Komödie und Satire, wobei letztgenannte die einzige literarische Form ist, die die Römer selbst hervorgebracht haben.

Frühzeit

Ihren Anfang nimmt die römische Literatur mit Livius Andronicus, der als freigelassener griechischer Sklave nach Rom kam. Er übersetzte Homers Versepos, die Odyssee, ins Lateinische, verfasste die ersten Dramen in lateinischer Sprache und übertrug griechische Bühnenwerke. Der erste muttersprachliche Dichter des Lateinischen hieß Gnaeus Naevius (um 270 bis ca. 201 v. Chr.), der dem Beispiel des Livius Andronicus folgte. Besonders erfolgreich waren seine Komödien. Von ihm stammt auch das Epos Bellum Punicum, ein Werk über den 1. Punischen Krieg, den Rom mit seiner Rivalin Karthago ausfocht. Der erste wirklich bedeutende römische Schriftsteller hieß jedoch Quintus Ennius, der vor allem wegen seiner Annales (Jahrbücher) Berühmtheit erlangte. Dabei handelt es sich um eine kraftvolle Versdichtung, in der die Geschichte Roms und seiner Eroberungen in Anlehnung an Homer in lateinischen Hexametern dargestellt wird. Seine Leistung bildet die Grundlage für das römische Nationalepos, das von späteren Dichterkollegen imitiert wurde, die seinen rohen Stil verfeinerten.

Von den Werken dieser frühen Dichter sind uns nur Fragmente überliefert, erhalten blieben allerdings 21 der insgesamt 130 Stücke des Komödiendichters Plautus, der sich an die attische Neue Komödie (Menander) anlehnte. Die Komödie war Roms wirkungsvollster Beitrag zur Entwicklung des Dramas. Die lebendigen und kraftstrotzenden Stücke des Plautus dienten zahlreichen europäischen Komödiendichtern späterer Epochen als Vorbild und werden bis in unsere Tage gespielt und nachgeahmt. Die von Plautus geschilderte Welt unbedarfter Herren, gerissener Sklaven, unschuldiger Mädchen und junger Burschen, die sich hoffnungslos verlieben, taucht erneut auf beim zweiten bedeutenden römischen Komödiendichter, nämlich bei Terenz. Dessen Stücke sind gefälliger und eleganter als die seines Vorgängers, weniger ausgelassen komisch, wohl aber anrührender.

Cato der Ältere, ein konservativer Staatsmann und unversöhnlicher Gegner Karthagos, war als Autor der erste, der die römische Prosa zur Blüte brachte. Der glänzende Redner lieferte die ersten Vorgaben für die römische Rhetorik und verfasste mit den Origines die erste Geschichte Roms in lateinischer Sprache. Seine Abhandlung De agri cultura (ca. 160 v. Chr., Vom Landbau) und einige seiner Reden sind uns erhalten. Ein großer Meister der Satire, eines offenbar von Ennius erfundenem Genre, war Gaius Lucilius, der sie in die typische Form goss und mit scharfer Zunge die zahllosen Torheiten der Menschen im öffentlichen wie im privaten Bereich schonungslos aufs Korn nahm. Von seinen Werken sind uns nur Bruchstücke überliefert.

Das Goldene Zeitalter: Dichtkunst

Vorläufer der bedeutendsten Epoche römischer Dichtkunst, die auch Goldene Latinität genannt wird, war Lukrez, dessen Lehrgedicht De Rerum Natura (Von der Natur der Dinge) in sechs Büchern die epikureische Philosophie darstellt. Damit wollte er seinen Zeitgenossen Gemütsruhe und Gelassenheit vermitteln und sie von der Angst vor dem Tod befreien. Auch Catull, der bedeutendste Vertreter der Neoteriker (von neoteroi: die Jüngeren), die in Abkehr von der altrömischen Dichtung einen neuen Standpunkt des "l’art pour l’art" vertraten, orientierte sich an griechischen Vorbildern. Seine längeren Gedichte zeugen von Komplexität und Gelehrsamkeit, doch eigentlich sind seine kürzeren Dichtungen typischer für ihn. Manche davon drücken in reinen, einfachen Worten seine Liebe zu Lesbia und seinem verstorbenen Bruder aus, andere zeichnen sich durch scharfen, sarkastischen Witz aus, mit dem er seine politischen Gegner angreift. Seit der Wiederentdeckung von Catulls Werken zu Beginn der Renaissance wurde seine eindringliche, ernste Stimme zur treibenden Kraft in der Geschichte der europäischen Lyrik.

Große Unterstützung fanden die römischen Dichter im Umfeld des augusteischen Hofes Maecenas’, der als Förderer bedeutender römischer Dichter bekannt wurde. Zu seinen Günstlingen gehörte auch Vergil, der schon zu Lebzeiten als größter römischer Dichter galt. Bereits zu Beginn seiner Laufbahn verfasste er die Eclogen, zehn elegante und bewegende Hirtenlieder in Hexametern nach dem Vorbild des griechischen Dichters Theokrit, die zum Standardmodell dieser Gattung wurden. Es folgten anmutige Gedichte zum bäuerlichen Leben, die Georgica. Vergils Meisterwerk ist jedoch die Äneis (Aeneis), das römische Nationalepos, das die Gründung Roms vom Mythos um das zerstörte Troja ableitet. Es berichtet darüber, wie der trojanische Held Aeneas nach Italien kam und dort eine Siedlung gründete, aus der Rom hervorging. Dieses vielschichtige Werk, in dem der Einfluss Homers spürbar ist, ist ein Meisterwerk an Ausgewogenheit, das den Wunsch nach Frieden der traditionellen Würdigung soldatischer Tugenden gegenüberstellt. Vergils Äneis erwies sich für viele Epochen als sehr bedeutsam, ließen sich doch auch für die eigenen Belange Botschaften finden.

Das lyrische Schaffen wurde von zahllosen Dichtern fortgesetzt, die auch heute noch auf den Lektürelisten stehen. Vergils Freund Horaz beispielsweise entwickelte sich zum Meister der Ode und übertrug in seiner Carmina geschickt das griechische Vermaß ins Lateinische, um so seiner eigenen anmutigen Dichtung entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Seine Satiren in der Tradition Lucilius’ sind vom Geist unvoreingenommener Heiterkeit durchdrungen. Bedeutung erlangte auch sein literaturkritisches Werk Ars poetica (Von der Dichtkunst). Die von Catull begründete Tradition der Liebeselegie wurde auf zarte und wehmütige Weise von Tibull (um 48 bis 19 v. Chr.) fortgeführt. Der letzte der drei ihm zugeschriebenen Gedichtbände enthält offenherzige und anrührende Liebesgedichte, die eigentlich aus der Feder einer zeitgenössischen Dichterin namens Sulpicia stammen. Es sind dies die einzigen erhaltenen Gedichte einer römischen Frau.

Dynamischere und vielschichtigere Liebeselegien schrieb Properz, turbulente und rastlose Zeugnisse seiner problematischen Beziehung zu Cynthia. Zum Abschluss gebracht wurde die elegische Tradition durch das Werk von Ovid, der diese literarische Form spielerisch bearbeitete. Bekannteste Werke des produktiven Dichters sind seine Ars amatoria (Liebeskunst), ein ironisches Handbuch über die Liebe, und sein Hauptwerk, die Metamorphosen, ein langes, locker gesponnenes Gedicht, das 250 Verwandlungssagen aus der griechischen und römischen Mythologie enthält.

Das Goldene Zeitalter: Prosa

Dem Goldenen Zeitalter der Dichtkunst entsprach ein Goldenes Zeitalter der Prosa. Der führende Kopf hieß Cicero, Staatsmann und Redner, dessen ausgefeilte und klangvolle Rhetorik Vorbild für die spätere Redekunst in Europa wurde. Zu seinen berühmtesten Reden gehört jene gegen den politischen Verschwörer Catilina, doch auch zahlreiche andere verfehlten ihre durchschlagende Wirkung nicht. Kaum zu übertreffen war Cicero auch mit seinen Werken zur Rhetorik und Philosophie, was u. a. seine Ausführungen zu Freundschaft oder zum Alter bezeugen. Weitgehend erhalten geblieben ist auch seine umfassende und aufschlussreiche Briefkorrespondenz.

Ein ebenso namhafter Prosaschriftsteller war Ciceros Zeitgenosse Gaius Julius Caesar. Seine klaren und eindrucksvollen Beschreibungen des Krieges in Gallien und der Bürgerkriege (De Bello Gallico und De Bello Civili) sind zu herausragenden Beispielen ihres Genres geworden. Der berühmteste römische Historiker Livius hinterließ unter dem Titel Ab Urbe Condita Libri (Von der Gründung der Stadt an) eine umfangreiche Geschichte Roms, wovon allerdings nur etwa ein Viertel erhalten blieb. Das Werk ist als historische Quelle von unschätzbarem Wert.

Das Silberne Zeitalter

Auf das Goldene Zeitalter folgt im 1. Jahrhundert n. Chr. eine Epoche, die häufig als Silbernes Zeitalter oder auch Silberne Latinität bezeichnet wird. Mag diese Periode auch im Schatten des vorangegangenen Jahrhunderts gestanden haben, ist sie doch gekennzeichnet durch zahlreiche Werke von hohem künstlerischen Niveau. Vergils Äneis schien den Gipfelpunkt des Epos markiert zu haben, so dass nachfolgende Epiker durch dieses Beispiel eher behindert denn inspiriert wurden. Als geschickte Nutznießer der epischen Tradition erwiesen sich jedoch ein Dichter names Lukan, der in seinen Pharsalia Ereignisse des Römischen Bürgerkrieges aufs lebendigste schildert, und Publius Papinius Statius, der im Mittelalter viel bewundert wurde. Thebais (ca. 91), sein Hauptwerk, stellt ein kraftvolles und locker gegliedertes Epos dar, das alle Stilmerkmale von Vergil auf die Spitze treibt. Die alles überragende Figur dieser Periode war Seneca der Jüngere, Erzieher des berüchtigten Kaisers Nero. Seneca legte die Lehrmeinungen der Schule der Stoa in Briefen und Abhandlungen dar, die großen Einfluss hatten, und schrieb zahlreiche grausige Tragödien, die im Laufe der Jahrhunderte das dramatische Empfinden des europäischen Publikums immer wieder in ihren Bann zogen.

Auf dem Gebiet der Satire sind einige interessante Werke aus dieser Phase zu vermerken. Der Sklave Phaedrus, der unter Kaiser Augustus freigelassen wurde, schuf lateinische Nachdichtungen der beliebten Fabeln des Griechen Äsop. Originellster Kopf seiner Zeit dürfte der weltgewandte Gaius Petronius gewesen sein, dessen verblüffendes Satyricon (ca. 60) ein Beispiel der menippeischen Satire darstellt, eine Mischform aus Vers und Prosa, benannt nach dem griechischen Satiriker Menippos. Das umfangreiche, nur teilweise erhaltene Vers- und Prosawerk stellt eine höchst unterhaltsame Lektüre dar, die das breite Spektrum menschlicher Ausschweifungen lebensnah schildert. Lebensnähe ist auch ein Markenzeichen der großen Satiriker jener Zeit, etwa des rigorosen und schwierigen Persius oder des bitteren, aber unterhaltsamen Juvenal. Die kürzeste der poetischen Formen, das Epigramm, wurde von Martial zur Vollendung gebracht; seine deftigen und witzigen Verse sind beispielgebend für ihr Genre.

Zur Prosa des 1. Jahrhunderts n. Chr. gehören auch Werke einiger Lehrschriftsteller. Plinius der Ältere war ein überaus produktiver Autor, dessen Historia Naturalis über Generationen hinweg ein Standardnachschlagewerk der Naturkunde blieb. Nicht minder kompetent ist die Institutiones oratoriae (ca. 95, Schule der Beredsamkeit) des Rhetorikers Quintilian. Das Werk setzt sich in Theorie und Praxis mit der Kunst der Rede auseinander und enthält einige der klügsten Passagen römischer Literaturkritik. Auch einige herausragende Historiker waren in dieser Zeit sehr produktiv. Cornelius Tacitus berichtet über historische und zeitgeschichtliche Ereignisse in seinen Historiae (104-109) und den Annales (um 115 bis 117). Mit dem Werk De origine et situ Germanorum (ca. 98, Über Ursprung und Wohnsitz der Germanen) verfasste er eine berühmte Beschreibung der Geschichte der Germanen. De Vita Caesarum (ca. 121) von Sueton ist berühmt wegen ihrer lebendigen Darstellung der Caesaren und der häufig düster anmutenden Schilderung jener römischen Geschichtsepoche, die für den modernen Leser den meisten Nervenkitzel zu bieten scheint.

Späte Periode

Mit dem zunehmenden Verfall des Römischen Reiches während der folgenden Jahrhunderte kam auch die literarische Produktion zum Stillstand. Trotzdem konnten sich einige wichtige Namen etablieren: Bei den Metamorphoseis (in Übersetzungen Der Goldene Esel genannt) des Lucius Apuleius handelt es sich um ein unterhaltsames Prosastück, das auch die elegant nacherzählte Geschichte von Amor und Psyche enthält. Einen letzten Höhepunkt erreichte die heidnische Erzählkunst im 4. Jahrhundert, als der hochgebildete Ambrosius Theodosius Macrobius in Form der Saturnalia (Gespräche am Saturnalienfest) eine Art Thesaurus der Kultur der Alten Welt vorlegte.

Frühchristliche Schriften

Die erste Phase christlicher Literatur in lateinischer Sprache überschneidet sich mit der Spätphase heidnischer Schriften. Der erste christliche Autor von Bedeutung war Tertullian, der die Prosa meisterhaft beherrschte. Einer der einflussreichsten christlichen Autoren seiner Zeit war der Kirchenvater Ambrosius, dessen Briefe nach wie vor mit Interesse gelesen werden und der auch als Schöpfer von Kultgesängen (Hymnen) bekannt ist. Eine neue Tradition christlicher Lyrik, bei der heidnische Stilmittel für christliche Inhalte verwendet wurden, begründete Aurelius Clemens Prudentius, in dessen Werk Psychomachia (Der Kampf um die Seele) erstmals die christliche Allegorie verwendet wird.

Beherrschende Figuren der frühchristlichen Prosa sind zwei Kirchenväter: Hieronymus und Augustinus. Größte Leistung des heiligen Hieronymus war seine Bibelübersetzung, die so genannte Vulgata. Sie ist seither die allgemein verbreitete lateinische Version, deren Einfluss auf die nachfolgende lateinische und europäische Prosa immens war. Der heilige Augustinus gehört zu den bedeutendsten europäischen Denkern überhaupt. Seine Hauptwerke De Civitate Dei (413-426, Vom Gottesstaat) und die sehr persönlichen Confessiones (ca. 398, Bekenntnisse) verwenden den klassischen Stil der Rhetorik Ciceros auf sehr individuelle Art und Weise, um damit christliche Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Von großem Einfluss auf das spätere christliche Denken waren auch Werke, die nicht spezifisch christlich ausgerichtet waren, wie etwa De Nuptiis Mercurii et Philologiae (ca. 400, Die Hochzeit Merkurs mit Philologia) von Martianus Capella, ein eigenartiges allegorisches Buch, das der christlichen Kultur Europas ermöglichte, das für sie wichtige weltliche Wissen einzuordnen. Consolatio Philosophiae (Trost der Philosophie), ein Werk des Staatsmannes Boethius, zeigt besonnen und meisterhaft, wie in drangvollen Zeiten das Leben des Geistes zur Quelle des inneren Friedens werden kann.

Mittellateinische Literatur

Die lateinische Literatur des Mittelalters setzte die Tradition der frühchristlichen Literatur fort. Isidor von Sevilla legte in seinen 20-bändigen Etymologiae einen Leitfaden der Kultur seiner Zeit vor (623), der im späteren Mittelalter als Standardwerk diente. Auch die Geschichtsschreibung, die zum Teil durchaus literarischen Anforderungen gerecht wurde, spielte in dieser Phase eine wichtige Rolle. 731 schloss der Angelsachse Beda Venerabilis, der auch in lateinischer Sprache dichtete, eine Kirchengeschichte seiner Heimat ab, die von unschätzbarem Wert für die Nachwelt ist. Das herausragende Prosawerk der damaligen Zeit war die von dem fränkischen Gelehrten Einhard verfasste Biographie Karls des Großen.

An dessen Hof hatte sich eine illustre Schar von Dichtern versammelt. Die führenden Köpfe waren der angelsächsische Gelehrte Albinus und der Erzbischof von Mainz, Rabanus Maurus, aus dessen Feder die prächtige Hymne Veni Creator Spiritus (Komm, Schöpfergeist) stammt. Auch war dies die Zeit, in der die liturgische Dichtung große Fortschritte machte. Die Sequenz, also hymnusähnliche Gesänge in lateinischer Sprache während der Messe, entwickelte sich im 9. Jahrhundert und ist insbesondere mit dem Namen Notker I. Balbulus des Klosters Sankt Gallen verbunden.

Im frühen Mittelalter waren auch längere Gedichte verschiedener Art verbreitet. Die Geschichte von Reineke Fuchs, eine Fabel, wurde im 10. Jahrhundert in lateinische Verse gebracht. Unter den epischen Werken ist besonders das Heldengedicht Waltharius manu fortis hervorzuheben, das dem Schweizer Mönch Ekkehart I. zugeschrieben wird und das Leben des Walther von Aquitanien schildert.

Die besten Beispiele mittelalterlicher lateinischer Dichtkunst waren zumeist Werke anonymer Autoren, was besonders für die weltlichen Gedichte der umherziehenden Gelehrten (Goliarden) galt, die darin die Freuden des Trinkgelages und der körperlichen Liebe priesen und den Klerus sowie die erbauliche Dichtkunst lächerlich machten. Von diesen anonymen Gedichten, den so genannten Vagantenliedern, sind einige Manuskripte erhalten geblieben. Am bekanntesten dürften hier die im 13. Jahrhundert entstandenen Carmina Burana sein, die 1803 im bayrischen Kloster Benediktbeuern entdeckt wurden. Auch liturgische Texte wurden weiterhin gedichtet. Herausragende Beispiele sind die Marienhymne Stabat Mater Dolorosa (Es stand die schmerzensreiche Mutter) von Jacopone da Todi und das Dies Irae (Tag des Zornes) des italienischen Mönches Thomas von Celano.

Überliefert sind des Weiteren zahlreiche geistliche Spiele des Mittelalters (z. B. Mysterienspiel, Moralitäten), die sich im Zusammenhang mit der kirchlichen Liturgie entwickelten und als direkte Vorläufer des modernen Dramas anzusehen sind. Die deutsche Nonne Hrotsvith von Gandersheim übertrug die dramatischen Techniken des Terenz auf christliche Themen. Die meisten Stücke dieses Genres sind jedoch anonym geblieben.

Lateinische Prosa erfreute sich großer Beliebtheit, insbesondere in Form kurzer Geschichten, wie etwa den Gesta Romanorum (Taten der Römer) aus dem 13. Jahrhundert. Auch die Legenda Aurea (Goldene Legende), in der vom Erzbischof von Genua, Jacobus de Voragine, das Leben von Heiligen beschrieben wird, ist hier zu nennen.

Zu jener Zeit war das Lateinische in ganz Europa die Sprache der Gebildeten. Überliefert sind uns viele Werke spezieller Prosaformen, etwa philosophische Schriften der Scholastiker, deren Anliegen jedoch nicht in erster Linie literarischer Natur sind. Einige Philosophen, so z. B. der französische Gelehrte Pierre Abélard, hinterließen allerdings auch literarisch bedeutsame Werke. Abélards Liebesgedichte und weltlichen Lieder sind zwar verloren gegangen, doch blieben uns seine Hymnen und der eindrucksvolle Briefwechsel mit seiner geliebten Héloïse erhalten. Zwei wichtige Werke des Scholastikers Alain de Lille, Anticlaudianus de Antirufino (Anticlaudianus, über den Antirufinus) und De Planctu Naturae (Über die Klage der Natur), stellen allegorische und philosophische Versuche dar, den Platz des Menschen im Rahmen des Erlösungsplanes Gottes für das Universum zu bestimmen. Obwohl man nun auch mehr und mehr in der jeweiligen Landessprache schrieb, blieb man für gelehrte Abhandlungen nach wie vor beim Lateinischen. Der große italienische Dichter Dante Alighieri schrieb in lateinischer Sprache Aufsätze über die Rolle der Monarchie (De Monarchia) und über den Gebrauch der italienischen Sprache (De Vulgari Eloquentia).

Lateinische Literatur der Renaissance

Die letzte große Blütezeit des Lateinischen, die Renaissance, wurde im 14. Jahrhundert eingeläutet durch das Werk des italienischen Humanisten Francesco Petrarca. Der Humanismus strebte danach, das klassische Altertum wieder zu beleben, indem man Sprache, Stil und Formen der römischen Literatur in den Vordergund rückte. Zu den herausragendsten Werken Petrarcas in lateinischer Sprache gehören das Secretum (1343) sowie zahlreiche Briefe. Autoren wie Poggio Bracciolini setzten die Tradition humanistischer Prosa in Italien fort. Er hat eine Geschichte des zeitgenössischen Florenz hinterlassen und ist Autor der Liber facetiarum (1438-1452), einer Sammlung von Schwänken.

Auch in der Renaissance blieb Latein die Sprache der Fachgelehrten und der Gebildeten. Die Sprachstudien des italienischen Humanisten Lorenzo Valla legten den Grundstein für die spätere Gelehrsamkeit und beeinflussten in hohem Maße Gedankenwelt und literarischen Stil der Epoche. Wichtig für die Literatur waren die philosophischen Schriften von Marsilio Ficino, der den Versuch unternahm, den Platonismus mit dem Christentum auszusöhnen, und von Giovanni Pico della Mirandola, dessen bekanntestes Werk die Rede De Hominis Dignitate (1486, Über die Würde des Menschen) ist.

Parallel zur Blüte der lateinischen Prosa im Italien der Renaissance erlebte auch die Lyrik mit einer Vervollkommnung des Ausdrucks eine Glanzzeit. Der damalige Dichterfürst hieß Giovanni Pontano, in dessen Werk zarte Erotik und der Sinn fürs Familienleben eine einzigartige Verbindung eingehen. Der aus Griechenland stammende Michael Marullus widmete den heidnischen Göttern glühende lateinische Hymnen, während der florentinische Humanist Angelo Poliziano ebenso kunstvoll in lateinischer wie in italienischer Sprache zu dichten verstand. Das Werk von Marco Girolamo Vida beinhaltet auch eine einflussreiche Abhandlung zur Dichtkunst, die Ars Poetica. Sein Christiad (1535) dürfte wohl dem erfolgreichen Renaissance-Epos in lateinischer Sprache am nächsten kommen.

Auch in anderen Teilen Europas blühte die lateinische Literatur und führte so die Tradition fort, die in Italien ihren Anfang nahm. Von überragender Bedeutung war der niederländische Humanist und Gelehrte Erasmus von Rotterdam, zu dessen umfangreichem Werk auch die berühmte Satire Encomion Moriae (1509, Lob der Torheit) gehört. Der englische Staatsmann Thomas More, ein Freund von Erasmus, verfasste mit Utopia (1516) ein visionäres Werk in lateinischer Sprache, das nach wie vor maßgeblich für das abendländische politische Denken ist. Bekanntestes lateinisches Werk der Renaissance ist der Roman Argenis (1621) des schottischen Dichters und Satirikers John Barclay. Eine Übersetzung dieser politischen Satire erfolgte 1623 durch den englischen Dichter Ben Jonson. George Buchanan, die überragende Figur des schottischen Humanismus, beherrschte die lateinische Versdichtung und das Drama. Zu den in Europa am meisten gelesenen Liebesgedichten in lateinischer Sprache gehörten die Basia (Küsse), ein leidenschaftliches Werk des Niederländers Johannes Secundus. Berühmt für seine markigen lateinischen Epigramme war der Waliser John Owen.

Bis ins 17. Jahrhundert hielt sich in Mitteleuropa die lateinische Dichtkunst. Zwei Jesuiten, der Pole Casimir Sarbiewski und der Elsässer Jacob Balde, schrieben eindrucksvolle Gedichte mit christlicher Thematik im Stil von Horaz. Der letzte große europäische Dichter, der sich des Lateinischen als Mittel des dichterischen Ausdrucks bediente, war der junge John Milton, der auch zahlreiche lateinische Prosawerke hinterließ, und zwar in seiner Eigenschaft als Staatssekretär des Commonwealth unter Cromwell im Jahr 1649.

 

Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie. © 1993-1998 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.