Lateinische Sprache

 

Lateinische Sprache, Sprache des antiken Rom und des angrenzenden Gebiets Latium. In dem Maß, in dem sich der Herrschaftsbereich Roms ausbreitete, drang auch das Lateinische in alle Gebiete der damals bekannten Welt vor und wurde zur beherrschenden Sprache in Westeuropa und im Mittelmeerraum. Latein gehört zur italischen Unterfamilie der indogermanischen Sprachen und ist Vorfahre der modernen romanischen Sprachen; verglichen mit den nichtitalischen indogermanischen Sprachen ist es am engsten mit Sanskrit und Griechisch sowie den germanischen und keltischen Unterfamilien verwandt. Latein war die Sprache der Gelehrsamkeit und Diplomatie bis zum 18. Jahrhundert und der römisch-katholischen Liturgie bis ins späte 20. Jahrhundert.

Die Ursprünge des Lateinischen sind nicht im späteren Verbreitungsgebiet zu suchen; die Sprache wurde vermutlich um 1000 v. Chr. von italischen Völkern aus dem Norden mitgebracht. Nach der endgültigen Unterwerfung der Samniten im dritten vorchristlichen Jahrhundert konnten die Römer ihr Territorium auf der gesamten Apenninenhalbinsel ausdehnen. In den nächsten Jahrhunderten folgten Eroberungen im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus: zunächst Sardinien, Sizilien und Korsika, dann Karthago und Nordafrika, die Iberische Halbinsel, Gallien, Gebiete in Germanien und Britannien, die Balkanhalbinsel und Griechenland sowie das gesamte östliche Mittelmeer. Innerhalb der italischen Sprachen bildeten Latein, Faliskisch und andere Dialekte eine lateinische Gruppe, die sich von anderen italischen Sprachen wie Oskisch und Umbrisch unterscheidet. Frühe lateinische Inschriften sind aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. überliefert; die ältesten Zeugnisse in römischem Latein stammen aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. Die lateinische Sprache wurde von verschiedenen Seiten beeinflusst: den keltischen Dialekten Norditaliens, dem nichtindogermanischen Etruskisch aus Mittelitalien und dem Griechischen, das bereits im 8. Jahrhundert v. Chr. in Süditalien verbreitet war. Unter dem Einfluss des Griechischen und seiner Literatur, die ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. ins Lateinische übersetzt wurde, entwickelte sich auch die lateinische Sprache zu einem bedeutenden literarischen Medium. Auch das lateinische Alphabet, das durch Vermittlung durch die Etrusker aus dem griechischen übernommen wurde, war beispiellos erfolgreich.

Die Literatursprache der Antike

Die Zeit des literarischen Lateins lässt sich in vier Perioden einteilen, die sich im Allgemeinen mit den literarischen Epochen decken: die altlateinische Periode, die goldene Latinität, die silberne Latinität und die spätantike Periode. Zur altlateinischen Periode (240 bis 100 v. Chr.), die gekennzeichnet ist von einer starken Erweiterung des Wortschatzes, gehören die Werke von Ennius, Plautus und Terenz. Die goldene Latinität (100 v. Chr. bis 14 n. Chr.) wurde berühmt durch die Prosa von Julius Caesar, Cicero und Livius und die Dichtung von Catull, Lukrez, Vergil, Horaz und Ovid. Hier entwickelte sich das Lateinische in Prosa und Poesie zu einem kunstvollen Ausdrucksmittel und gelangte zu größtmöglicher Flexibilität und Fülle. In der Periode der silbernen Latinität (14 bis 117 n. Chr.) strebte man sowohl nach kunstvoller rhetorischer Ausarbeitung und Ausschmückung als auch nach dem knappen, epigrammatischen Ausdruck. Letzterer findet sich vor allem in den Werken des Philosophen und Dramatikers Seneca und des Geschichtsschreibers Tacitus. Zur spätantiken Periode (2. bis 6. Jahrhundert n. Chr.) gehört das patristische Latein der Kirchenväter. Zu jener Zeit führten vordringende Volksstämme zahlreiche fremde Formen und Sprachelemente ein. Die daraus entstandene veränderte Sprachform erhielt die Bezeichnung Lingua Romana, die sie von der Lingua Latina, der klassischen Sprachform der Gebildeten, unterschied.

Gesprochenes Latein

Die Umgangssprache der gebildeten Römer findet sich in den Werken verschiedener Schriftsteller, vor allem in den Komödien von Plautus und Terenz, den Briefen Ciceros, den Satires und Epistles von Horaz und dem Satyricon von Petronius Arbiter. Typisch für sie sind die größere Freiheit im Satzbau und die häufige Verwendung von Interjektionen und griechischen Wörtern. Diese umgangssprachliche Form, die unter den gehobenen Schichten verbreitet war (sermo cotidianus), darf jedoch nicht mit dem sermo plebeius verwechselt werden, der Sprache der ungebildeten Schichten, die weniger Wert auf den klassischen Satzbau legte, neue Wörter unbekümmert und gerne aufnahm und ganz allgemein nach Vereinfachung – vor allem in der Wortstellung – strebte. Dieser sermo plebeius ist als „Vulgärlatein" bekannt geworden. Bisweilen schließt der Begriff auch den sermo cotidianus der gebildeten Römer mit ein. Die romanischen Sprachen haben sich nicht aus der lateinischen Literatursprache entwickelt, sondern aus dem sermo plebeius der spätlateinischen Periode, der Lingua Romana. So verschwand z. B. equus („Pferd") aus der Sprache, und caballus („Gaul", „Lastpferd") wurde zur Grundlage für die romanischen Wörter für Pferd (cheval, caballo). In ähnlicher Weise sind die romanischen Wörter für Kopf (tête, testa) nicht von dem lateinischen caput abgeleitet, sondern von einem lateinischen Slangausdruck für Kopf (testa), wörtlich „Topf".

Mittellatein

Im mittelalterlichen Westeuropa war Latein die Sprache der Wissenschaften. Die Sprache dieser Periode nennt man Mittellatein oder auch nichtklassisches Latein. Latein war auch für die breite Bevölkerung weiterhin eine lebendige Sprache, da die Kirche eine enorme Menge an kirchlicher Prosa und Dichtung hervorbrachte. Die Sprache machte jedoch zahlreiche Veränderungen durch. Der Satzbau wurde weiter vereinfacht, neue Wörter aus verschiedenen Quellen wurden aufgenommen, und neue Bedeutungen traten an die Stelle der alten. Trotzdem änderte sich die lateinische Sprache in dieser Periode weitaus weniger als die französische oder die englische.

Neulatein oder modernes Latein

Im 15. und 16. Jahrhundert entstand das Neulatein, auch modernes Latein genannt. Die Schriftsteller der Renaissance schrieben in einem neuen, ausgezeichneten Latein, das die Autoren der klassischen Periode – vor allem Cicero – nachahmte. Nahezu alle Bücher von Rang, ob naturwissenschaftlichen, philosophischen oder religiösen Inhalts, wurden zu jener Zeit in lateinischer Sprache verfasst. Dazu gehören auch die Werke des holländischen Gelehrten Erasmus, des englischen Philosophen Francis Bacon und des englischen Physikers Isaac Newton. Daneben war Latein auch das Verständigungsmittel für die diplomatischen Beziehungen zwischen den europäischen Nationen. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts schwand seine Bedeutung als internationale Sprache. Dennoch blieb es auch im 18. und 19. Jahrhundert die Sprache der klassischen Gelehrsamkeit, und sogar noch im 20. Jahrhundert werden bisweilen Abhandlungen in lateinischer Sprache verfasst. Die katholische Kirche verwendet die lateinische Sprache weiterhin in ihren offiziellen Dokumenten.

Im modernen Lateinunterricht werden verschiedene Aussprachen verwendet. In Europa, mit Ausnahme von Großbritannien, orientiert man sich an der Aussprache der modernen europäischen Sprachen, die wiederum die an das Italienische angelehnte Aussprache der katholischen Kirche übernommen haben. In Großbritannien klingen die lateinischen Wörter wie englische, wobei jedoch jede Silbe ausgesprochen wird. Daneben gibt es noch die römische Methode, die versucht, das Lateinische nach den Regeln der Zeit Ciceros auszusprechen; sie wird in Schulen und Universitäten in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern gelehrt. Eigennamen werden jedoch nach den Normen der jeweiligen Landessprache ausgesprochen: Cicero klingt in Deutschland wie Tsítsero, in Italien wie Chíchero, in Spanien wie Thíthero, in Frankreich wie Siséro und in England wie Sísero.

Eigenschaften

Der Lautbestand des Lateinischen weist fünf Vokale auf (a, e, i, o, u), deren Länge phonologisch relevant ist. Der Wortakzent befindet sich meist auf der vorletzten Silbe. Das Lateinische ist eine synthetisch-flektierende Sprache. Es werden sechs Kasus unterschieden (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ und Ablativ), drei Genera (Maskulinum, Femininum und Neutrum) und fünf Deklinationsklassen. Es gibt die Tempora Präsens, Perfekt, Imperfekt, Plusquamperfekt Futur I und Futur II. Das Tempussystem des Lateinischen ist geeignet, den zeitlichen Bezug eines Vorgangs zum Sprecher und die zeitlichen Relationen zwischen Vorgängen auszudrücken, nicht jedoch den Aspekt. In der Verbalflexion unterscheidet man vier Konjugationsklassen. Latein ist eine Nullsubjektsprache mit deutlicher Tendenz zur Subjekt-Objekt-Verb-Wortstellung (grundsätzlich ist die Wortstellung frei). Die lateinische Sprache besitzt einen strengen Satzbau und eine gewichtige Diktion, Kraft und Präzision; aufgrund dieser Eigenschaften war es all die Jahrhunderte hindurch hervorragend als wissenschaftliches und philosophisches Medium geeignet.

Die lateinische Sprache lebt in zweifacher Hinsicht weiter: Zum einen wird die literarische Sprache bis heute gelehrt und gelesen, und zum anderen besteht sie in den romanischen Sprachen weiter, denn sie stellen die moderne Weiterentwicklung des Vulgärlateins dar. Italienisch vor allem trägt zu Recht die Bezeichnung „modernes Latein" (romanische Sprachen). Die europäischen Sprachen haben vieles aus dem Lateinischen übernommen, direkt und – über die heute noch bestehenden romanischen Sprachen wie Französisch und Italienisch – auch indirekt. Die lateinische Sprache ist nicht nur wegen ihrer Literatur von Bedeutung, sondern auch weil sich aus der Betrachtung ihrer Entwicklung viel über Sprachgeschichte im Allgemeinen, aber auch über den Ursprung und die Entwicklung wichtiger moderner europäischer Sprachen lernen lässt.

 

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